Annette Hug

Tiefenlager

2021 | Buch
Tiefenlager
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Sie zerstreuen, vervielfachen und verteilen sich auf verschiedenen Kontinenten, überall da, wo Konzerne rund um den Globus nach sicheren Orten suchen. Doch angefangen hat alles auf einem alten Bauernhof in Westeuropa südlich der Alpen mit einer Vision: Kein Mensch wird durch die Strahlung eines Endlagers für nukleare Abfälle getötet. Fünf Leute aus verschiedenen Nationen, eine Krankenpflegerin, ein Kraftwerk-Arbeiter, ein Nuklearphysiker, eine Finanzberaterin und eine Linguistin gründen einen Orden und entwickeln Methoden, das Wissen um die Gefahren des Atommülls verlässlich zu dokumentieren und von Generation zu Generation weiterzugeben.Verunsicherung setzt ein und zwingt den Orden zu erweiterten Aktivitäten, als der vom Konsortium versprochene Bau des Endlagers auf sich warten lässt und der Pachtvertrag gekündigt wird.
Ein literarisch ungemein spannender Roman über eine uns und künftige Generationen bedrohende Materie, eingebettet in interessante Lebensgeschichten der einzelnen Akteur*innen und science-fiction-artig erzählte Zukunftsszenarien

 

Verlag: Das Wunderhorn | 2021 | 220 Seiten

Leseprobe auf der Website des Verlags:
www.wunderhorn.de/?buecher=tiefenlager

 

Links zu weiteren Artikeln von Anette Hug, die aus dem Aufenthalt in Hongkong entstanden sind:

https://www.woz.ch/1733/die-zukunft/vorsorgepoker-zwischen-hongkong-und-zuerich

https://www.woz.ch/2009/ein-traum-der-welt/leere-plaetze

 

 

 

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Das wichtigste Vorhaben war, die Sonntage unter Filipinas im Geschäftsviertel Central zu verbringen und zu verstehen, wie das Groß-Picknick der Tausenden von Hausangestellten im öffentlichen Raum funktioniert. In der ersten Woche führte ich die vereinbarten Interviews und verschaffte mir spazierend einen Überblick. Ab dem zweiten Sonntag suchte ich nach eigenständigen Möglichkeiten, mit Frauen ins Gespräch zu kommen. Als geeignet entpuppten sich neben dem Kirchenkaffee der anglikanischen Kirche St. John alle Orte, wo man Schlange stehen bzw. sitzen musste: Die Schlangen bei der katholischen Kirche St. Joseph, wo man eine Stunde ansteht, um in der Messe einen Sitzplatz zu ergattern; Schlangen bei (illegal) tätigen Maniküristinnen und Masseurinnen in der Unterführung zwischen Chater-Road und Connaught-Pl.; meine philippinische «Stammkneipe» in Kowloon, Saigon Street, in der ich mich mit einer 79-jährigen Hilfsköchin befreundete, die seit 30 Jahren in Hong Kong lebt. (...)

Die wichtigste Erkenntnis gleich zu Anfang war, wie rigid das Aufenthaltsstatut der Hausangestellten ist. Meine Idee, dass (...) eine Filipina mit chinesischen Wurzeln in meinem Roman als Krankenschwester in einem Spital arbeitet, erwies sich als unrealistisch. So verlagerte sich mein Interesse auf die Situation von ausgebildeten Pflegefachfrauen, die im Status der Hausangestellten als Privatpflegerinnen arbeiten. Hier machte sich die vorbereitende Suche nach Internet-Communities und News-Seiten von und für Filipinas in Hong Kong bezahlt. Über eine solche Community stieß ich auf die Hong Konger Sektion der «Filipino NursesAssociation» und ihre Präsidentin, die allerdings in Hong Kong angestellt ist, um einen Hund zu hüten. Zu meinem Glück betätigt sie sich unter Pseudonym auch als Journalistin und Bloggerin, was unser Treffen zusätzlich fruchtbar machte.

In der Arbeit am Roman hatte sich zwischen Juni und November herausgeschält, dass die eingeschobenen Science-Fiction-Novellen von jeweils unterschiedlichen Ideen über die künftige Veränderung der Sprache(n) leben. Die Frage, wie die chinesische Schrift mit den verschiedenen gesprochenen Sprachen (Kantonesisch, Mandarin, Hokkien/Fujian-Hua) zusammenhängt, war ein großes tägliches Faszinosum. Mich interessierte besonders die Frage, was eine «Tsinay», eine Filipina mit chinesischen Wurzeln, in Hong Kong verstehen würde.

In den Gesprächen mit Filipinas spielte Sprache automatisch eine Rolle. Sie fragten stets, weshalb ich Tagalog spreche. Umgekehrt konnte ich dann fragen, ob und wenn ja, wie sie Kantonesisch gelernt hatten. So kam neben der Situation beim Arbeitgeber und der Geschichte ihrer auf den Philippinen zurückgelassenen Kinder auch etwas davon zur Sprache, was sie in der Stadt Hong Kong wahrnehmen und lernen.

Eine große Hilfe war der Kontakt zur Journalistin Natalie Yimin Chen, den mir Oliver Radtke von der Robert Bosch Stiftung vermittelte. Über Natalie konnte ich die Situation von alten Menschen mit Demenz, die von einer fremdsprachigen Hausangestellten gepflegt werden, von der chinesischen Seite her recherchieren. Das gewährte mir inspirierende Kontakte zu Leuten, die sich für einen Ausbau des Sozialstaats in Hong Kong engagieren. Besonders hilfreich war ein langer Besuch bei einem Mitglied der «Hong Kong Alzheimer-Association», die in drei Zimmern mit ihrem Mann, zwei Filipinas aus Ilocos und ihrer hoch-dementen Mutter wohnt. Außerdem besuchte ich ein Day-Care-Center für demente Senioren und Seniorinnen im Außenquartier Sha Tin und sprach mit der Alters-Forscherin Teresa Tsien Wong von der «Hong Kong Polytechnic University». Schließlich fand ich in Peace Wong vom «Hong Kong Social Council» einen Gesprächspartner zum Thema Rentensysteme. Ein Highlight waren seine Ausführungen zum Einfluss Schweizer Versicherungsexperten in der Ausarbeitung der hiesigen Pensionskassen, und darin die politisch motivierte Verschiebung der Metapher «Pyramide mit drei Lagen» zu «Drei-Säulen-System». (...)

Als verbindende Elemente der verschiedensten Erfahrungen stellte sich einerseits das Thema Sprachenlernen heraus, andererseits «das Klösterliche». Letzteres in Besuchen von buddhistischen Klöstern und Klostergärten, vom Trapistenkloster auf Lantao, aber auch im spartanischen Interieur eines Altersheims in Sha Tin, im Anspruch an die Hausangestellten, ohne eigenes Zimmer und ohne Stauraum für persönliche Gegenstände zu leben, in der Auswahl älterer Kung Fu- und Wuxia-Filme, die ich einkaufte, und in den hybriden religiösen Praktiken von zwei älteren Filipinas, die in ihrer Freizeit als Heilerinnen tätig sind.

  • Annette Hug (c) Florian Bachmann
    Annette Hug, geboren 1970 in der Schweiz, hat in Zürich und Manila Geschichte und Women and Development Studies studiert. Nach Tätigkeiten als Dozentin und Gewerkschaftssekretärin lebt sie heute als freie Autorin in Zürich. Ihr dritter Roman, Wilhelm...