Walter Sperling

Vor den Ruinen von Grosny

2023 | Buch
Vor den Ruinen von Grosny
Zum Werk

»Was war der Vielvölkerstaat Sowjetunion, der immerhin sieben Jahrzehnte lang das Leben von über zweihundert Millionen Menschen bestimmte? Wie funktionierte das Miteinander der multiethnischen Gemeinschaften, die in einer Vielzahl von sowjetischen Städten über Jahrzehnte bestanden? Anders gefragt, wie gelang es den Menschen, nach den Exzessen der Gewalt – Revolution, Bürgerkrieg, Terror, Zweiter Weltkrieg – einander wieder in die Augen zu schauen und neues Vertrauen zu fassen? Oder waren die gemeinsam verlebten Jahrzehnte nach Stalins Tod nichts weiter als ein Ausharren, ein Warten auf das ›Ende der Geschichte‹?« Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führte Walter Sperling in dieser mitreißend erzählten Alltagsgeschichte an den Rand der ehemaligen Sowjetunion, nach Grosny. Dort bündelt sich wie in einem Brennglas das Kräftespiel von Widerstand und Integration, im Ringen des russischen Imperiums und der Peripherie, der Kolonisatoren und Kolonisierten. Erst Garnisonsort, dann Boomtown des Erdöls, nach der Oktoberrevolution Baustelle des Sozialismus, wenig später Frontstadt im Visier der deutschen Wehrmacht. Nach der Deportation der Tschetschenen und Inguschen 1944 und deren Rückkehr 1957 hörte man lange nichts mehr von dem beschaulichen Städtchen im Kaukasus, das beharrlich um seinen sozialen Frieden rang. Bis zum ersten russischen Tschetschenienkrieg, als Grosny erneut in Ruinen endete. Die Eskalation und die Radikalisierung zeichnet Walter Sperling nach. Vor allem aber macht er die Bemühungen sichtbar, Brücken zu schlagen und zu vermitteln, weil die Eliten der multiethnischen und multireligiösen Peripherie wussten, was der Preis von Entfesselung ist.

Matthes & Seitz Berlin | 2023
ISBN: 978-3-95757-235-6 | 675 Seiten
 

Zur Recherche
„Das Interview hatte etwas von einer Beichte…“

Auf meinen Recherchereisen in Russland, im Kaukasus und in Europa, die ich auf den Spuren von Grosny zwischen 2011 und 2015 unternommen habe, machte ich Notizen und führte ein Tagebuch. Blättere ich heute darin, so reißt es mich wieder zurück. Vor Augen stehen die Verzweiflung und die Wut, der Schmerz und der Hass. Darauf stieß ich immer wieder, wenn ich mit den Augenzeugen des russischen Krieges gegen die nordkaukasische Republik Tschetschenien sprach. Auf die Ausbrüche war ich nicht vorbereitet. Intuitiv tat ich, was Menschen eben tun: ich zeigte Mitgefühl, versuchte zu beruhigen, das Gespräch auf etwas Erbauliches zu lenken. Schließlich hatten meine Gesprächspartner nach dem Krieg wieder Halt gefunden, in einer Art Normalität wieder Fuß gefasst. Ich fühlte mich verantwortlich, sie aus dem Zustand herauszuführen, in den ich sie durch meine Fragen versetzt hatte. Seelsorge nannte ich es, einen christlichen Begriff dafür verwendend. Er schützte mich davor, von den Gefühlen überwältigt zu werden. Möglichst sachlich schrieb ich dann auf, was mir aufgefallen war und was ich besonders bewegend fand, um die Eindrücke später mit den Interview-Aufnahmen abzugleichen.

Eine Tschetschenin, Kommunistin bis zum Zerfall der UdSSR, die weinend ihren Zorn herausspuckt: „wie mit Panzern sind sie über mich herübergefahren, haben alles, was mir heilig war niedergewalzt“. Eine Russin, die ihre Augen hinter einer großen Sonnenbrille verbirgt, weil sie als junge Frau erlebt hat, wie die Stadt zwischen 1994 und 1996 mehrfach erobert und zurückerobert worden ist. Ein tschetschenischer Kämpfer, bis 1991 Unteroffizier einer sowjetischen Spezialeinheit, der die geballte Faust gegen die steinerne Balkonbalustrade schlägt, weil er sich in der Abenddämmerung daran erinnert, wie es gewesen ist, unter Dauerfeuer der Artillerie zu liegen und mitanzusehen, wie seine Kameraden sterben, „die besten Männer“, „sinnlos und vergeblich“, wie er nun mehr weiß.

Solche Begegnungen haben mich Kraft gekostet. Ich wollte nie wissen, wie es sich anfühlt, Granatsplitter von Streumunition im Körper zu haben, die umherwandern; oder wie es klingt, wenn eine Schädeldecke bricht. All diese Gespräche stehen wieder vor mir. Sie machen mir abermals klar, warum es mir in meinem Buch ein Anliegen war, das Leben der multiethnischen Stadt in seinen vielen Facetten zu fassen, ja, es selbst in seiner sowjetischen Banalität zu feiern, denn es ist zerstört worden durch den Krieg.

  • Walter Sperling (c) privat
    Walter Sperling, 1975 in Karaganda geboren, emigrierte in seiner Kindheit aus der UdSSR in die Bundesrepublik Deutschland. Nach einem Studium der Geschichtswissenschaft, der Osteuropäischen Geschichte und der Slawistik an der Universität Bielefeld...