Wo bitte geht's nach Belarus – Meine Reisen in die unbekannteste Mitte Europas
Zum Werk
In Belarus ist nichts offensichtlich. Wer das osteuropäische Land kennen lernen will, braucht Geduld, Pioniergeist und ein gutes Auge. Denn wer weiß schon, dass die Renaissance, die Reformation, ja selbst das Judentum das belarussische Erbe prägten? Wer kennt den Namen des Schriftstellers Uladzimir Karatkewitsch, der die belarussische Literatur quasi im Alleingang in die Moderne überführte? Wer reist heute noch nach Witebsk, die Geburtsstadt Marc Chagalls, die Anfang des 20. Jahrhunderts ein blühendes Zentrum der kulturellen Moderne war? Neunzig Jahre später knüpft eine kunterbunte Kulturlandschaft an diese Zeiten an. Belarus besitzt Hunderte Seen, die aus dem Weltall wie uralte Augen in die Gegenwart starren, hier liegt das Pripjat, die größte Moorlandschaft Europas, dessen torfiger Duft einen bis in die Träume verfolgt. Und nirgends hängt der Himmel so hypnotisierend hoch wie hier, am Rande Europas.
Politisch ist Belarus, das „Nordkorea Europas“, unzugängliches Terrain. Nicht nur, weil der autokratische Präsident Aleksandr Lukaschenka das Land in die Isolation geführt hat. Belarus oder Weißrussland, wie es im deutschen Sprachgebrauch genannt wird, scheint beim Abriss des eisernen Vorhanges vergessen worden zu sein. Mit seinen monströsen neoklassizistischen Prachtstraßen und den wilden Kolchosen sieht es aus wie ein Freilichtmuseum des Sozialismus. Die Globalisierung, der Kapitalismus, die EU, das 21. Jahrhundert überhaupt haben einen Bogen um diese Insel des Stillstandes gemacht. Viele halten Belarus überhaupt nur für „ein Anhängsel Russlands“, für politisch krank, anachronistisch, öde, ja sogar finster.
Wer sich aber die Zeit nimmt, wer Offenheit mitbringt, den überrascht dieses Land immer wieder mit seinen gastfreundlichen Menschen und seiner komplexen Geschichte, die wenige einfache Antworten bereithält, dafür aber untrennbar zur europäischen Identität gehört. Denn in Belarus, wo sich seit Jahrhunderten die Reiche, Systeme und Armeen trafen, oft blutig bekämpften, ein verwüstetes Land und Millionen Tote hinterließen, wird die Geschichte noch immer von den Legenden der Sieger in Warschau, Vilnius oder Moskau geprägt. Historische Baudenkmäler, die an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg oder der Sowjetunion erinnern, sind selten. Gerade die Nazi-Herrschaft bedeutete für Belarus und seine Bewohner eine soziale und kulturelle Katastrophe. Jeder vierte Belarusse starb. Dörfer und Städte wurden von der Landkarte getilgt, die Juden, oft mehr als die Hälfte der Stadtbevölkerung, ermordet. Nachdem Stalin die Intelligenzia in den Dreißigern hingerichtet hatte, wurde der Rest der Elite im Krieg vernichtet. Belarus war seiner Geschichte beraubt - und seiner Zukunft.
Ingo Petz will mit seinem Buchprojekt die Tür zu diesem unbekannten Land im Herzen Europas aufstoßen. Es will auf eine unterhaltsame, aber tiefe und dichte Art über ein Land erzählen, das noch immer vor allem mit der Katastrophe von Tschernobyl und der Bezeichnung „die letzte Diktatur Europas“ verbunden ist. Reportagehaft, literarisch und essayistisch bringt das Buch dem Leser Belarus' Geschichte, Kultur und aktuelle politische Entwicklung näher - und zwar durch die kritische Begeisterung des Autors, der das Land in den vergangenen 15 Jahren während seiner intensiven Reisen kennen gelernt hat.
Der Essay erschien im April 2011 in einem Belarus-Band des Osteuropa-Historikers Thomas Bohn. Zudem schreibt Ingo Petz an einem Buch über Belarus, das mit aller Voraussicht bei Suhrkamp/Insel erscheinen wird.
Zur Recherche
Ich reise seit 15 Jahren nach Belarus - und ich wusste wohl, dass ich irgendwann ein Buch über meine zweite Heimat schreiben würde. Auch diese Zeit ist Teil der Recherche, die zu dem Buch geführt hat. In den vergangenen zwei Jahren bin ich schließlich nochmals in das Land zwischen Warschau und Moskau gereist, in die Sumpfgebiete des Südens, in den Westen, der für viele belarussische Patrioten die Himmelsrichtung der Sehnsucht ist, nach Witebsk, der Geburtsstadt des Malers Marc Chagall, zu historischen Stätten, in abgelegene Dörfer, an die Ufer des Njoman (Memel). Ich habe Musiker, Schriftsteller und Politiker getroffen, Bauern, Bauarbeiter und Penner, habe ihnen zugehört, auch mit ihnen getrunken - ganz einfach, um zu verstehen, warum mich Belarus so sehr fasziniert und warum dieses Land in Europa so unbekannt ist.
- Ingo Petz wurde 1973 in Stolberg/Rheinland geboren. Nach seinem Studium der Osteuropäischen Geschichte und Slawistik in Köln und Wolgograd (Russland) volontierte er bei der Kölnischen Rundschau. 2002 ging er für zwei Jahre nach Neuseeland, wo er als...