Robert Schoen

Tscherkesskij Magasin - Черкесский магазин

2022 | Hörfunk
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Zum zweiten Mal sprechen die Würfel mit dem Hörspiel. Wie bereits in Entgrenzgänger I aus dem Jahr 2020 entscheidet der Zufall, was für ein Radiostündlein entsteht.

 

Aufgrund einer fast vergilbten Stipendiumsverpflichtung steht das Land seit Jahren fest: Russland. Ausgewürfelt wird nun die Stadt, die zur Protagonistin dieses Stückes werden soll. Nach 638 Würfen steht die Siegerin fest: Tscherkessk im Nordkaukasus.
Auweia!! Dort wird erst geschossen, dann gefragt, warnt eine Russin aus dem Norden. Und überhaupt: Krieg! Keine Flugverbindungen, keine Einreise auf dem Landweg möglich, Geld muss in bar mitgeführt werden. Aber so leicht geben wir nicht auf.
Das Hörspiel macht sich auf den Weg, allen Hindernissen zum Trotz.

Mit Albert Mussajewitsch Batschaev, Boris Tagirovitsch Kascharokov, Lorenz Eberle, Rustam Yusupov, Beslan Mischaev u.v.a.

Realisation: Robert Schoen
hr 2022 gefördert durch das Grenzgänger-Programm der Robert Bosch Stiftung und des Literarischen Colloquiums Berlin | 81 Min.
Hörspiepremiere 13. November 2022

Zum Hörspiel: www.hr2.de/programm/hoerspiel/hoerspiel-premiere----tscherkesskij-magasin

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bei Boris im Pädagogikum.

Zunächst in die Kantine, die er, wie er stolz berichtet, selbst mit aufgebaut hat. Es ist 12:30 Uhr. Heute gibt es Pollack, der in Deutschland auch manchmal als Wrackfisch läuft, eine Art Dorsch, paniert. Dazu riesige Radieschen.

Boris sagt, die Kantinenchefin erinnere ihn an seine Mutter, weshalb er sie liebe.

Mir ist noch nicht nach Kallmück, wie der Fisch auch heißt. Also süßen Kaffee. Dann hoch ins Büro, erst mal eine rauchen.

Es kommen dazu: Sergei Iwanowitsch, der Fahrer des Instituts, und Bilal Magometowitsch, der Französischlehrer, mit dem ich noch ein Gedicht einer zeitgenössischen Lyrikerin aufnehmen will, Vera Pavlova, die heute in Kanada lebt.

 

Wir diskutieren ein wenig über Rezitationsformen. Da fällt uns ein, dass ich morgen unbedingt einen PCR test machen muss. Boris telefoniert eifrig, um alles zu organisieren. Am Ende steht der Plan: Treffen am nächsten Tag, 13:00 Uhr mit seiner Kollegin Oxana Jurjewna, die mit mir zum Test im Leninprospekt 146 geht, anschließend ist ein Konzertbesuch geplant. Ich habe keine Ahnung, welche Musik gegeben wird. Samstag um 08:30 Uhr soll Sergei Iwanowitsch dann das Ergebnis abholen, bevor wir in die Berge nach Dombai, unweit der georgischen Grenze fahren, um einen „Poeten“ zu treffen.

 

Organisationskram erledigt, zurück zum Gedicht. Bilal ist hochkonzentriert

 

Zu Erben gibt es im Leben nichts

Als den Tod. Und auch er,

Wenn er mit zitternden Fingern

Vom Rewers die Orden entfernt

Und die Steine durch das Wort

Gedenken verletzt –

Selbst er hat Angst 

 

Aufbruch. Wohin? Wir werden sehen.

20 minütchen später Halt auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums, Lorenz ruft aus Paris an. Wir klopfen unser Treffen in einer Woche in Wien fest. Geplant ist die Aufnahme einer fiktionalen Begegnung zwischen Stalin und Hitler im Café Central. b.deutung hat mir den Text mitgegeben.

Plötzlich sitze ich allein im Auto. Boris steht im Regen und raucht. Bilal und Sergej verschwunden. Nach einer Weile kommen sie mit einer Flasche Cognac zurück, weiter geht die Fahrt.

Wir landen im Berghof, einem muslimischen Restaurant, das einem Freund von Sergej gehört. Im Hof kleine Separees, in der Art von Weinfässern. Kabinki. Wir nehmen Platz, Heizlüfter an, Zigaretten. Dann die wichtigste Frage: können wir es wagen, den Cognac, der in meinem Rucksack gelandet ist, auszupacken?

Eigentlich verboten hier – muslimische Regel. Aber wir finden doch eine Gesetzeslücke und los geht‘s.

Immer mit Trinkspruch, der auch gerne mal 3 Minuten dauern darf. Ohne ordentlichen Trinkspruch ist das Ganze eine Sauferei, mit Trinkspruch eine kulturelle Veranstaltung erklärt Boris.

Chirchin, Gefüllte Fladen, für mich mit Spinat dazu Tee, außerdem Cognac, bis die Flasche leer ist. Sergej trinkt nichts. Strenges Alkoholverbot am Steuer.

Wir sprechen über das Verhältnis der Kaukasusvölker zu den Russen, über die Deportation der Abasiner, einige seiner Verwandten wurden unter Stalin nach Mittelasien verschleppt, trotzdem hebt er Stalins Verdienste hervor. Und der Holodomor? frage ich.

Bilal ist Kommunist. Wir rauchen. Pause. Unser Weinfass inzwischen geschwängert von Rauch, schwer aufzulösenden Widersprüchen und Utopien. Ohne Utopien erstickt man, sagt einer. Bilal hofft auf ein Erstarken der Kommunisten. Zumindest eine Koalition mit Einiges Russland, Putins Partei.

Warum trinkt ihr eigentlich keinen Wodka, frage ich. Weil Wodka aus allen Russen macht, wir sind Kaukasier. Schallendes Gelächter. Der letzte Trinkspruch des Nachmittags Boris trinkt auf den Frieden, die Völkerverständigung und die Freundschaft.

Wir brechen auf, es regnet immer noch.

 

 

Freitag 6. Mai

Startschwierigkeiten. Frage mich, ob genug brauchbares Material zusammengekommen ist. Tscherkessk wird hörspieltechnisch aus Moskau beliefert, habe ich erfahren. Oft bleiben die Lieferungen unterwegs stecken, möglicherweise ist noch nie etwas angekommen. Produziert wird hier schon gar nichts, gehört noch weniger. Ich habe keinen Menschen getroffen bisher, der hier schon mal ein Hörspiel gehört hätte. Lesungen ja, aber Hörspiel...

Das aktuellste und einzige was ich finden konnte, war eine Box mit Hörspielen vom Goethe-Institut im Büro von Boris, früher 80er. Er war selbst überrascht, dass das bei ihm im Schrank stand. Kassettenrekorder zum Abhören der Sachen findet sich leider nirgends.

 

Spätes Frühstück : adin jatza, suir, salad, chleb, pazhalusta. Leire ich herunter, also ein Ei, Käse, Salat, Brot und Kaffee.

Ein Ringer aus Dagestan fragt, wo ich herkomme. Sind eigentlich alle in Dagestan Ringer?!  

Ich muss mich entscheiden, BMW oder Mercedes. Ich sage lustlos BMW, weil das das kürzere Wort ist.

Oh nein, er setzt sich zu mir an den Tisch. Bitte jetzt kein Gespräch. Er plaudert von Dagestan, ich verstehe praktisch nichts. Er macht eine Geste am Hals und hält inne -  scheint eine Frage zu sein.

Äh... stannle ich und dann blöd: ihr schneidet in Dagestan also allen Deutschen den Hals durch? Er fällt fast in mein Spiegelei vor Lachen. Das Zeichen heißt, lass uns ein Schlückchen Cognac zusammen trinken. Ich lehne ab, zum ersten Mal auf meiner Reise. Zum Glück kommt die aparte Rezeptionistin rein, die letztlich interessanter ist als ich. Er wechselt den Schauplatz, die Kampfmatte.

 

Mit dem Bus zum PCR Test.

Treffe Oxana, die mich begleitet. Ihrer Mutter ist aus Sibirien, der Vater kommt aus der Ukraine. Der Ex Mann lebt in der Ukraine.

Was hörst du denn von dort, frage ich.

Nichts Gutes, sagt sie, will aber nicht weiter darüber reden.

Na gut, dann eben nicht.

Nach dem Test Taxi zum Konzert im Kulturhaus.

Wieder Tänze und Gesänge. Heute kommt keine rechte Begeisterung bei mir auf. Hymnen auf die Schönheit der Republik auf das geliebte Russland.

Bin ein bisschen froh, dass ich am 9. Mai nicht da bin, Tag des Sieges. Da wird wieder alles geschwöngert sein von nationalem Weihrauch und Hymnen auf Stadt, Republimk und Föderation.

Oxana neben mir ist völlig aus dem Häuschen, klatscht und johlt und singt mit. Tänze und Gesänge der Region aber seltsamerweise alles auf Russisch, viele junge Leute, die dürfen hier umsonst rein, der sogenannte Puschkinpass für Studenten, 7000 Rubel im Jahr freier Eintritt. Die Begeisterung ist echt. Endlich zu Ende. Oxana blickte mich mit feuchten Augen und geröteten Wangen an.

Auch Ihre Freundin Irina, die wir getroffen haben. Und wie fandest du es fragezeichen?!

Äh... Es war sehr bunt, sage ich.

Tuschel, tuschel – sie und Ihre Freundin, eine weitere Dame, gut durch den Ramadan gekommen, drängt sich dazu.

Ich will endlich gehen, allein sein, oder wenigstens 50 Gramm Cognac trinken.

Nichts da, es kommt alles viel schlimmer, Höchststrafe: Interview für das lokale Fernsehen. Nicht schon wieder! Wie komme ich aus der Nummer raus?

Keine Lust auf Lobhudele.

Ich murmele irgendetwas, weder Russisch noch Deutsch. Als sich die Damen für einen Moment wegdrehen, schleiche ich mich davon, sollen sie mir hinterherrufen, wird mir schon irgendwas einfallen, eine faule Ausrede.

Unbemerkt lasse ich mich mit der Menge nach draußen wogen. Ich gehe auf die Rückseite des Kulturpalastes. Hohes Gras, Graffiti – abgeblätterter Putz.

Nach der ganzen Schönheit Russlands und der Republik freue ich mich über das Hässliche. Dazu könnte ich was sagen, dazu bekäme ich was hin, dazu fiel mir etwas ein.

 

Ich habe ein deutsches und ein russisches Handy, beide klingeln und vibrieren hysterisch. Oxana sucht mich.

Öhh, sage ich, ich bin schon mal raus.

Wir treffen uns vor dem Eingang, als wäre nichts gewesen. Ich sage nichts, sie fragt nichts. Mit der dicken Irina geht es zu dritt zum Auto, wo hoffentlich ein Cognac wartet. Nichts da, ein gepflegtes Mittagessen ist geplant. Irina heizt die Ausfallstraße entlang und wir landen in einem Blockhaus, einem nogaischen Restaurant, das gleichzeitig Museum ist, wieder Séparée.

Gespräch etwas schleppend, kein Wunder, die Damen trinken keinen Cognac. Zum Nachtisch gibt es Kräutertee mit Milch, Salz und Pfeffer aufgekocht. Ich bestehe darauf, die Rechnung zu übernehmen. Hochanständig gehe ich zur Theke zum bezahlen, damit sie nicht mit Finanziellem behelligt werden.

Mein internes geheimes Zusatzprotokoll: ich werde mir an der Theke beim Bezahlen einen doppelten Cognac gönnen. Den ersten heute.

Die Damen merken zum Glück nichts von der Sauferei – weil ohne Trinkspruch. Vielleicht haben sie aber doch was gemerkt, denn zum Abschied zwängen Sie mich in einen kaukasischen Hirtenmantel mit Hirtenhut.

 

Zur Strafe muss Oxana ein Gedicht von  Gleb Semjonov lesen:

 

Kein Freund, keine Frau,

kein Tier, das dich wärmt.

Nachtpunkt schneefeld.

Ist Gott überhaupt?

  • (c) privat
    Robert Schoen (*1966 in Berlin) studierte nach einer kaufmännischen Aubildung am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Gießener Justus-Liebig-Universität und absolvierte danach eine Ausbildung zum Hörspielregisseur beim Südwestrundfunk (SWR...