Robert Prosser

Phantome

2017 | Buch
Cover Phantome
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Robert Prosser schildert intensiv ein fast vergessenes Kapitel der jüngeren Geschichte: Der Jugoslawienkrieg, der die letzte große innereuropäische Flüchtlingswelle in den 1990ern auslöste, dessen drastische Verbrechen bis heute nicht aufgearbeitet sind und weit in die Generation der Kinder der Geflüchteten nachwirken. Anisa flüchtet 1992 aus Sarajewo nach Wien. In den beginnenden ethnischen Säuberungen hat sie ihren Vater zurückgelassen – und wird ihn nie wiedersehen. Auch von ihrem Freund Jovan, einem bosnischen Serben, der zum Militärdienst eingezogen wurde, konnte sie sich nicht verabschieden. Jahrzehnte später reist Anisas Tochter Sara auf den Spuren ihrer Mutter nach Bosnien-Herzegowina.

Ullstein fünf, 2017

Kontakt: ro.prosser@gmail.com

Performance-Mitschnitte:Phantome: https://www.youtube.com/watch?v=1kYCPsju2FY

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Bosnien, 2014 - 2016

Auf dem Rückweg von Albanien war ich 2013 erstmals in Bosnien, ein kurzer Aufenthalt in Sarajevo, um nach zwei Tagen per Bus nach Zagreb zu gelangen. Dieser Zwischenstopp brachte das Eingeständnis mit sich, fast nichts über das Land zu wissen, abgesehen von vagen Erinnerungen an die als Kind kaum verstandenen Schreckensmeldungen, die während des Jugoslawienkrieges die Radio- und Fernsehnachrichten beherrschten. Aus Neugier begann ich, Interviews mit Menschen zu führen, die es aufgrund des Krieges nach Österreich verschlagen hatte. In verschiedensten Wiener Cafés, in Schrebergärten oder Gemeindebauten und den Reihenhäusern der Vorstadt: überall wurde ich von den Geschichten, die man mit mir teilte, in einer bis dahin unbekannten Intensität eingesponnen. Im Kaffeehaus nahm ich die übrigen Gäste nicht mehr wahr, der Ort hörte auf zu existieren wie auch das Straßentreiben vorm Fenster, nur noch die Stimme war da, die Stimme eines Menschen, der als Elektriker oder Lehrerin fest im gegenwärtigen, österreichischen Alltag stand, dessen Existenz jedoch auf traumatischen Erlebnissen von Gewalt, Tod und Flucht gründete.

Ich entdeckte, wie sehr Wien von der jugoslawischen Kultur geprägt und geformt wird, ich lernte, die Stadt neu und gründlicher zu lesen, da ich bestimmte Graffitis, Shirt-Aufdrucke oder Tätowierungen nun ihren serbischen, bosniakischen oder kroatischen Hintergründen zuordnen konnte: stilisierte Lilien oder weiße Adler, das viermalige S, ein weißer Schwan auf schwarzem Grund, ein Schachbrettmuster, dessen erstes Kästchen oben links entweder mit weiß oder rot beginnt. Die Gespräche enthüllten mir nach und nach eine andere Vergangenheit, die 1990er aus der Sicht ehemaliger Flüchtlinge; eine parallele Geschichtsschreibung, die mit eigenen Helden und Verbrechern, mit erschütternden Schicksalen und mitunter absurden Anekdoten aufwartete. Ich hörte etwa von Kozluk, einer Kleinstadt im Osten Bosniens. Im Frühjahr 1992 vertrieben Paramilitärs, die sich Gelbe Wespen nannten, die Kozluker Muslime, ihre ungewissen Flucht endete schließlich in einem Lager in der österreichischen Hauptstadt. Der Bürgermeister Kozluks war darum bemüht, die Gemeinschaft beisammenzuhalten, oft erzählte man mir von diesem Mann, der nichts unterlassen habe, um seinen Leuten zu helfen, ja, schob man mit einem Lächeln nach, sogar im Wiener Gefängnis wäre er gesessen, wegen Waffenhandels und weil er den Transfer freiwilliger Kämpfer organisiert hatte – ein weiterer Aspekt dieser anderen Historie: nicht nur serbische Gastarbeiter fuhren als sogenannte Wochenendkrieger von Österreich nach Bosnien, um über ihre freien Tage an den Gefechten teilzunehmen, auch unter den geflohenen Bosniaken und Kroaten entwickelte sich schnell ein System, um Geld, Waffen und Kampfwillige aus den Wiener Wohnungen oder Flüchtlingslagern auf den Weg zu bringen. Trotz Haft blieb der Bürgermeister nicht untätig, bereits kurz nach Kriegsende überzeugte er den Großteil der vertriebenen Kozluker, zurückzugehen und die Stadt wieder aufzubauen –  es mochte dieser Wille sein, sich nicht die eigene Vergangenheit rauben zu lassen, selbst wenn diese nunmehr in der Republika Srpska wurzelte, dem neugeschaffenen serbischen Teil Bosniens, weshalb dem Bürgermeister auch Jahre nach seinem Tod noch von vielen Hochachtung entgegengebracht wurde.

Dank den Kontakten zur Diaspora besaß ich bald etliche Telefonnummern, Mailadressen und Namen, genug, um die Nachforschungen auf Bosnien selbst zu erweitern. Etwas mehr als drei Jahre habe ich an einer Geschichte geschrieben, die von Wien bis nach Srebrenica reicht und über einem Zeitraum von 1992 bis 2015 Lebenswegen folgt, die vom Krieg unterbrochen oder in ungewollte, ungeahnte Bahnen gelenkt wurden. In diesen drei Jahren war ich für die Recherche vorwiegend in der Posavina und im bosnischen Osten entlang der Drina unterwegs. Ich begann zu verstehen, dass Bosnien exemplarisch für vieles ist, das in Westeuropa –  gerade wieder –  passiert: das Erzeugen von Feindbildern, die mediale Manipulation, die Macht der Propaganda, der inszenierte Kampf zwischen Christentum und Islam – das alles ist zwischen Drina und Save ständig präsent. Ich bin dort auf Fragen gestoßen, die mich seither umtreiben: Wie geht man mit den Erfahrungen von Krieg und Flucht um? Wie bewahrt man die eigene Erinnerung vor dem Missbrauch durch nationalistische Politik? Oder, wenn ich an die Jugendlichen denke, mit denen ich in Tuzla zu tun hatte, der Stadt, in der im Februar 2014 jene Proteste begannen, die auch Sarajevo oder Zenica ergriffen und sich gegen das korrupte politische System richteten als eruptiver Beweis zivilen Ungehorsams: Wohin mit all der Energie und mit dem Frust, dass die EU als Versprechen von Glück und Zukunft so nahe ist, dieses Versprechen aber nie eingelöst wird? Wie mit dieser latenten Perspektivlosigkeit fertig werden?

Die bosnischen Jugendlichen taten die Erfahrungen ihrer Eltern, die teils angesprochenen, teils verschwiegenen Geschehnisse während des Krieges mit einem Schulterzucken ab: Was kann man dazu schon sagen?, fragte mich eine, wie kann man´s verstehen?, und oft war mir, als ob es vielen der Jüngeren genau darum ging: endlich etwas zu sagen, etwas zu verstehen, die lästige Sprachlosigkeit ein für alle mal abzuschütteln. Und das mochte mit ein Grund für mein eigenes Vorhaben gewesen sein; ich wollte mir ein Land erschreiben, seine Vergangenheit und Gegenwart, eben weil es viel zu erzählen gab, viel zu ergründen. In diesem Versuch bin ich gescheitert, natürlich, weil Bosnien sich als zu vielschichtig und facettenreich erwies, um an irgendeiner Art von Grund oder Wahrheit angelangen zu können. Und bestimmt kommt meine fortwährende Verwunderung über das Land den eigenen Entscheidungen zu, von denen einige mir jetzt, im Nachhinein, fragwürdig scheinen. So weigerte ich mich beispielsweise, die Sprache zu erlernen; eine Wahl, die mir während der Zeit, die ich im Osten Bosniens verbrachte, in der Region von Zvornik bis Goražde, absolut notwendig vorkam. Konfrontiert mit den Kriegswunden in der Landschaft und den Menschen suchte ich nach einer Möglichkeit von Schutz. Die Sprache des Landes nicht zu verstehen verwies mich ins Abseits, fügte mich eindeutig in die Rolle des Fremden. Diese Position des Aussenseiters gab mir ein Gefühl von Distanz und dadurch von Sicherheit. In Phasen, in denen ich allein unterwegs war, half mir diese Abkapselung, um im alltäglichen Schweigen den Roman weiterzuspinnen. Ich reiste nicht durchs reale Bosnien, vielmehr wanderte ich durch eine Vorstufe des Romans, eine damals noch lange nicht ausgeformte, jedoch lebhafte, vibrierende Geschichte, die mich nach wie vor nicht loslässt.

  • Autorenfoto Robert Prosser © Lena Prehal
    Robert Prosser, geboren 1983 in Alpbach/Tirol, lebt dort und in Wien. Studium der Komparatistik und Kultur- und Sozialanthropologie, Aufenthalte in Asien, in der arabischen Welt und in England. Er tritt europaweit mit Performances auf und ist...