Holodomor: Über den Hunger des Jahres 1933 und andere Geheimnisse. Eine ukrainische Ausgrabung.
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„Geheimnisse“ lautet der Name eines Spiels, das in der Ukraine von kleinen Mädchen gespielt wird. Sie graben ein Erdloch, füllen es mit bunten Fundstücken, bedecken es mit einer kleinen Glasscheibe und schütten es wieder zu. Am nächsten Tag kommen sie zu dem Versteck zurück und sehen sich den schimmernden, funkelnden Schatz unter der Scheibe an. Auch ihre Großmütter haben es so gemacht – mit den christlichen Ikonenbildern, die sie vor der Zerstörung durch die Sowjetmacht bewahren wollten. So beschreibt es die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko.
In der Sowjetukraine durfte vieles nur im Geheimen bewahrt werden. Auch die Erinnerung an dreieinhalb bis vier Millionen Hungertote, die Stalins Kollektivierungspolitik Anfang der 1930er Jahre gefordert hat. Sechs Jahrzehnte lang war es bei Strafe verboten, über den Hunger der Jahre 1932 und 33 zu sprechen. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine wurde er als „Holodomor“ bekannt – und zum Völkermord an den Ukrainern erklärt. Seitdem spielt er eine bedeutende und kontroversielle Rolle für die ukrainische Identitätsbildung.
Auf einer Reise durch die Zentral- und Ostukraine hat die Autorin Überlebende des Holodomor zu ihren Erinnerungen befragt. Sie erzählen von der fruchtbaren ukrainischen Schwarzerde, vom Wohlstand, den sich die Bauern vor dem „großen Hunger“ erarbeitet hatten – und davon, wie in ihren Dörfern, am Beginn der 1930er Jahre, ein Klassenkampf inszeniert wird, der dazu dient, die Bauern ihrer Lebensgrundlage zu berauben und sie zum Eintritt in die Kolchosen zu zwingen. Ernten, Vieh und schließlich auch persönliche Vorräte der Familien werden beschlagnahmt – bis das Land in eine künstliche Hungersnot stürzt. Zur selben Zeit werden Millionen Tonnen Getreide aus den sowjetischen Agrarregionen in das „sozialistische Vaterland“ exportiert oder zu Schleuderpreisen nach Europa verkauft.
Die Verunsicherung darüber, wer die Verantwortung für den Hunger in Russlands „Kornkammer“ trug, hält bei vielen Überlebenden bis heute an.
Österreichischer Rundfunk / Deutschlandradio Kultur
Redaktion: Lisbeth Jessen
Sprecher: Irina Wanka, Markus Hering
Ton: Robert Pavlecka
Länge: ca. 54:00
Erstausstrahlung: 15.01.2011, 09:05 Uhr (Österreichischer Rundfunk, Programm Ö1, Sendereihe „Hörbilder“)
Wiederholung: 02.04.2011, 18:05 Uhr (Erstsendung Deutschlandradio Kultur)
Die Sendung wurde im Rahmen der EBU „Masterschool on Radiofeatures“ produziert.
www.franziskadorau.net
franziska.dorau@orf.at
Website des Senders: https://oe1.orf.at/artikel/266892
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Im Juli 2010 reiste ich in die Ukraine, wo ich in Kiev und Charkiv, sowie in den Dörfern Chominzy, Samiske und Bezrucky zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen, Historikern und Schriftstellern führte. Die Resonanz auf meine Anwesenheit und mein Interesse am Thema Holodomor war durchwegs positiv. Ich hatte den Eindruck, dass es vor allem den älteren Leuten sehr gut tut, am Ende ihres Lebens doch noch offen über ihre jahrzehntelang unterdrückten Erinnerungen sprechen zu können. Teilweise ist der Wunsch, zu erzählen, aber immer noch mit der Angst vor Repressionen verbunden.
- Franziska Dorau, geboren 1979 in Wien, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und Paris. Seit 2006 ist sie Kulturredakteurin und Featureautorin des ORF Hörfunks. Ihr besonderes Interesse gilt dem Thema Nationenbildung im...