Zorana Mušikić

GHOSTS ALONG THE DEAD TRACK

2022 | Fotografie
 Fotografien von Zorana Mušikić
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GHOSTS ALONG THE DEAD TRACK ist ein 2018 begonnenes fotografisches Projekt durch Westsibirien, entlang der von Gulag-Häftlingen erbauten Eisenbahnlinie am Nordpolarkreis; eine Reise durch die menschenleere Tundra, der Heimat der Nenzen, bis hin zu den Industriestädten und Gasfeldern der größten Erdgasvorkommnisse der Erde; ein antizyklischer Trip aus der Gegenwart in die Vergangenheit gegen die Zeit, um die jahrzehntelang im Eis der sibirischen Tundra konservierten Überreste von Stalins „großartigem Plan zur Transformation der Natur“ zu dokumentieren, während ein multinationales Bahn- und Straßengroßprojekt schon begonnen hat, die Spuren der „toten Trasse“ zu überschreiben. Mit dem neuen Bauvorhaben tauchten neue Menschen, neue topographische Zeugnisse auf, andere blieben oder verschwanden. Und während sich der Mensch immer weiter in die Natur einschrieb, den Permafrost bezwang und seine Geschichte des Fortschritts im Namen des Kapitals weitererzählte, wich das Narrativ des Kalten Krieges zugunsten des globalen Interesses an der Ausbeutung fossiler Brennstoffe. Gegenwärtig erscheint die Arbeit noch einmal in einem neuen Licht – durch die massive Abhängigkeit von russischem Öl und Gas, aber auch durch die Beteiligung deutscher Unternehmen innerhalb deutsch-russischer Joint Ventures zur Erdgasförderung in Westsibirien, die trotz des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine weiter fortbesteht.

Die fotografische Arbeit GHOSTS ALONG THE DEAD TRACK wurde im Rahmen der Gruppenausstellung ZEITKOLORIT der Freien Klasse Eva Bertram in Berlin gezeigt.

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Hintergrund/Geschichte:

1459 km lang sollte die Strecke Chum-Igarka werden und vom Ob bis zum Jenisei über den Permafrostboden führen. Von 1947 bis 1953 Jahre arbeiteten geschätzt 300.000 Gulag-Gefangene am Bau der Bahn, die ein Drittel der Menschen ihr Leben gekostet haben soll - bei neun Monaten Schnee im Jahr und Temperaturen bis minus 50 Grad. Das Gulag-Projekt trug die Bezeichnungen Nummer 501 (westlicher Abschnitt) und Nummer 503 (östlicher Abschnitt).

Die Abkürzung Gulag steht für das russische "Glavnoe Upravlenije Lagerej" und bedeutet "Hauptverwaltung der Lager". Es bezeichnet ein umfassendes System von Straf- und Arbeitslagern ("Besserungsarbeitslager") sowie Verbannungsgebieten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, das in den 1920er Jahren eingerichtet und systematisch ausgebaut wurde. Bis Mitte der 1950er Jahre durchliefen schätzungsweise 20 Millionen Menschen das Lagersystem, welches zu diesem Zeitpunkt mehr als 200 Standorte, zumeist in den unwirtlichen Gegenden Sibiriens und des Hohen Nordens, umfasste. Die genaue Zahl der Todesopfer ist unbekannt. Die sowjetische Führung nahm den Tod der Insassen infolge der katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen billigend in Kauf, andere überlebten bereits die Deportation nicht oder wurden, insbesondere während des Großen Terrors der Jahre 1937/38, hingerichtet. Nicht nur vermeintliche und tatsächliche politische Gegner aus der Sowjetunion kamen in die Lager des Gulag oder der Verbannung. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden hunderttausende Menschen aus allen sowjetisch besetzten Gebieten sowie Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit in den Gulag verschleppt. (…) Nach Kriegsende brachten neue Repressionswellen hunderttausende Menschen erneut in die Lager. Unter unmenschlichen Bedingungen wurde die Arbeitskraft der Lagerinsassen für die infrastrukturelle und industrielle Erschließung erbarmungslos ausgebeutet. Das Gulag-System entwickelte sich damit zu einem wichtigen Wirtschaftsunternehmen in der Sowjetunion. Nach dem Tod des sowjetischen Diktators Stalins wurden große Teile des Gulags aufgelöst. Viele Insassen kamen im Zuge von Amnestien bis Ende der 1950er Jahre frei. Quelle: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/sowjetische-straf-und-arbeitslagergulag/geschichte

Der Bau begann Ausbruch des „Kalten Krieges“, um einen befürchteten Angriff der USA über das Nordpolarmeer abwehren zu können. Die Eisenbahntrasse über den Permafrostboden der Tundra Nordsibiriens, sollte den Nachschub für die Verteidigung sichern. Von Permafrost spricht man, wenn der Boden (abgesehen von dem sommerlichen Auftauen der Oberfläche) durchgehend gefroren ist. Bis zu Stalins Tod im Sommer 1953 wurden knapp 600 km der Trasse fertiggestellt. Nur ein knapp 200 km langes Teilstück (Chum-Labytnangi) wurde in Betrieb genommen. In den sechziger Jahren erhielt eine weitere Teilstrecke (Nadym-Urengoi) Bedeutung - als bei Urengoi das zweitgrößte Erdgasvorkommen der Welt entdeckt wurde. Die Strecke wurde reaktiviert, alle anderen Abschnitte schliefen weiter einen eisigen Dornröschenschlaf. Doch der lange als KGB-Sperrzone unbereisbare Teil Russlands wurde wirtschaftlich immer wichtiger und 2008 gab es die ersten Pläne zur infrastrukturellen Entwicklung der Region. 2011 bekam ein spanisches Unternehmen den Auftrag für den Neubau des 390 km langen Gleisabschnitts Labytnangi-Nadym. Damit sollte, fast 70 Jahre später, der mittlere Teil des sog. Abschnitt „501“ von Stalins „Toter Trasse“ in Betrieb genommen werden. Der Wiederaufbau umfasste auch den Bau einer 2,5 km langen Ob-Brücke und der 1,3 km langen Brücke für Auto- und Schienenverkehr über den Nadym. 2015 wurde die Autobrücke eröffnet. Auch die Deutsche Bahn stand in Verhandlungen an dem vier Milliarden Euro schweren Großbauprojekt teilzunehmen, 24 Millionen Tonnen Rohstoffe sollen hier jährlich über die Gleise rollen. Eine Fertigstellung der gesamten Bahnstrecke Salechard–Igarka ist ebenfalls für die nahe Zukunft geplant, um die großen Bodenschätze der arktischen Gebiete besser erschließen zu können. Das Bauprojekt wird unter dem Namen Northern Latitudinal Railway geführt und ist eines der wichtigsten Infrastrukturprojekte für die russische Arktis. Schon heute werden Teile der Bahnstrecke exklusiv durch Gazprom betrieben und stehen dem „normalen“ Personentransport nicht zur Verfügung. Auch der Straßenbau schreitet voran, 2018/19 wurden schon die Hälfte der Straße zwischen Salechard und Nadym fertiggestellt. Doch noch liegt der größte Teil der Polarkreiseisenbahn ungenutzt, verfallen und von der Vegetation überwuchert in der sibirischen Tundra – die meiste Zeit des Jahres verborgen unter einer Schneedecke. Noch zeugen Wachtürme, Lager und Gräber entlang der Trasse von der Geschichte.

Russland verfügt mit etwa 25 % der weltweiten Gesamtreserven über die größten bekannten Erdgasreserven und über die achtgrößte Menge an nachgewiesenen Ölreserven. Die größten Reserven befinden sich auf der Yamal-Halbinsel, mehr als 90 % des russischen Erdgases werden im Autonomen Kreis der Yamal-Nenzen gefördert. Auf die Region entfallen auch 12 % der Ölförderung Russlands. Da man davon ausgeht, dass der Arktische Ozean im Sommer aufgrund des Klimawandels bald eisfrei sein und die Nordseeroute verfügbar wird, soll die Eisenbahn auch dazu beitragen, die Entwicklung der Infrastruktur der Nordseeroute des Landes zu beschleunigen. Die neue Strecke wird die beiden nördlichsten Eisenbahnen der Welt verbinden; Die Norilsk-Bahn und die Obskaya-Bovanenkovo-Linie, sowie den Weg für die Verbindung der beiden schiffbaren Flüsse in Sibirien Ob und Jenissei ebnen. Die Fertigstellung ist für 2025 geplant.

Auch deutsche Unternehmen sind im Rahmen von deutsch-russischen Joint Ventures an der Erdgasexploration und -förderung in Westsibirien vertreten und halten trotz des Krieges in der Ukraine an seinen Beteiligungen in Russland fest

  • Zorana Mušikić
    Zorana Mušikić, 1976 in Bad Kreuznach geboren, studierte zunächst Grafik und Malerei, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur und Medien in Marburg. 2009 begann sie in an der Neue Schule für Fotografie Berlin ein Studium, das sie 2013 abschloss...