Die beiden Hälften der Walnuss - ein Deutscher in Bulgarien
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In vierzehn Texten kratzt der Autor an Vorurteilen über Bulgarien und am dünnen Blattgold touristischer Sehenswürdigkeiten, um freie Sicht auf das verborgene Leben, die komplexen Zeitschichten und mentalen Verwerfungen Bulgariens zu erhalten.
Thomas Frahm
Die beiden Hälften der Walnuss
Ein Deutscher in Bulgarien
150 S., Hardcover mit Schutzumschlag, 22,– €
ISBN 978-3-7357-8652-4
CHORA Verlag, Duisburg
Lieferbar ab sofort in allen Buchhandlungen
Inhalt:
• Geistige Anreise (Nichtwahrnehmung, Vorurteile, politische Ortung etc.)
• Kleine Physiognomie oder Vom Ja- und Nein-Sagen
• Wie europäisch ist Bulgarien? (Historische Wurzeln einer schwierigen Zugehörigkeit)
• Sinn und Sinne der Sprache (Über das Benennen der Dinge)
• Die beiden Hälften der Walnuss (Tradition, Abgeschlossenheit und Verstehen)
• Martenizi (Phänomenologische Deutung des bekanntesten bulgarischen Brauchs)
• Bulgarischer Humor (Zusammenhang zwischen Schicksal und Selbstverständnis)
• Die ausgebreiteten Arme der Bogoroditsa (Kirche, Kultur und Menschlichkeit)
• Wirklichkeit ist Verhandlungssache (Vom Umgang mit dem Leben)
• Eine Welt vor dem Geld (Menschlichkeit jenseits von Kapitalismus und Kommunismus)
• Bulgarien könnte ein Fest sein (Alltagsleben nach der Wende)
• Die Wende kommt noch (Schwierigkeiten Bulgariens mit der Transformation)
• Dialoge mit Pescho (Interkultureller Schwank)
• Heimfahrt (Beschreibung einer Fahrt mit dem Bus von Bulgarien nach Deutschland)
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Thomas Frahm erhielt 2005 das Grenzgänger-Stipendium und ist seit langem Grenzgänger zwischen Bulgarien und Deutschland.
"Bulgarien ist eine Walnuss. Sie knacken hieße: sie zerstören. Also ist der Grenzgänger als teilnehmender Beobachter in Bulgarien gut beraten, wenn er sich selbst als Walnuss entdeckt und so Selbstbild und Fremdbild einander von innen heraus erkennen lässt, ohne die Schale anzutasten."
"Das war er also, der Großstadtdschungel, nach dem ich mich in der geordneten Perspektivlosigkeit meines deutschen Daseins immer gesehnt hatte: Nach zwei Tagen Fahrt im Kleinbus, in den ich das allernötigste Hab und Gut verladen hatte, war ich von einem idyllischen westdeutschen Städtchen mit restaurierten Fachwerkhäusern, sauberen Straßen und ohne besondere Vorkommnisse im letzten noch vor der Wende erbauten Plattenbauviertel Sofias angekommen. Die langgezogenen Betonblöcke mit meist acht Stockwerken und fünf Treppenaufgängen lagen im Abendlicht da wie gestrandete Walfische. Nachträglich verglaste Balkone, in denen die Menschen wegen der kleinen Wohnungen meist ihre Küchen installiert hatten, reflektierten das Sonnenlicht. In der Ferne gärte im aufsteigenden Dunst der Kegel des Witoscha, ein bulgarischer Kilimandscharo. Das Gefühl, wirklich in einem Dschungel gelandet zu sein, stellte sich aber nicht nur deshalb ein, weil die damals, zur Jahrtausendwende, noch streunenden Rudel ausgesetzter Hunde einem vermittelten, man könne jeden Moment zerfleischt werden. Es ergab sich vielmehr als Summe kleiner Dinge, die nach deutschen Maßstäben nicht in Ordnung waren. Wacklige oder schiefe Gehsteigplatten machten meiner Neigung, gedankenverloren durch die Gegend zu schlurfen, schon bald ein Ende. Riesige Schlaglöcher im Asphalt der Straßen warnten: Einen einzigen Schritt nicht aufgepasst, und du liegst mit gebrochenen Knochen auf der Nase. Und als ich gerade gelernt hatte, aufmerksam auf den Boden vor mir zu schauen, stieß ich mir beim Versuch, eine Busfahrkarte zu kaufen, den Kopf an den Metallstangen einer Zeitungsbude, die Menschen von mehr als 1,70 Meter Körpergröße mit Beulen bestraften. Abgesägte Laternenpfähle und geklaute Kanaldeckel, von verarmten Leuten im Wirtschaftscrash der Wende bei findigen Buntmetallzwischenhändlern gegen amerikanische Dollars verscherbelt, stimulierten die Phantasie des fremden Beobachters und ließen ihn nach den größeren Zusammenhängen fragen. Nachts wurde dies Wildreservat, von nur wenigen verbliebenen Straßenlaternen notdürftig erhellt, in eine Atmosphäre lauernder Lebendigkeit getaucht. Ich stellte mir vor, dass fremdartige Raubtiere unsichtbar zwischen den ächzenden Betonklötzen, den summenden und klackenden Stromverteilerhäuschen und dem Rascheln der Müllcontainer, in denen der Wind nach Essen wühlte, umherstrichen. Manchmal hörte man sie sogar, wenn eine der zahllosen Auto-alarmanlagen losheulte und gleich darauf ein Rudel Hunde in deren Jaulen einstimmte, als hätte es Beute gemacht. Die Wachheit, die dies alles in mir erzeugte, war anstrengend, aber sie euphorisierte mich auch. Im Gegensatz zu der Wachheit in Deutschland, die auf bestimmte Aufgaben oder Interessen beschränkt war, war dies hier eine notwendige Wachheit, eine Wachheit, von der mein Überleben abhing. Und so glich die erste Fremderfahrung, die ich in Bulgarien machte, einem Muskelkater, der nicht etwa darauf verwies, dass ich mich verändert hatte, sondern sehr schmerzhaft darauf, was bisher in mir brachgelegen hatte!"
Thomas Frahm, Im Kokon der Fremde, In Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 06/Juni 2011.
- Thomas Frahm, geboren 1961 in Duisburg, Zivildienst in einer Psychiatrie, 1982-1987 Studium Geographie, Philosophie, Städtebau und Bodenkunde in Bonn, lebt nach Zwischenstationen als Literaturberater und Verleger von Migrationsliteratur seit 2000 als...