Petra Morsbach

Dichterliebe

2013 | Buch
(c)Perlentaucher
Zum Werk

Der Lyriker Henry Steiger war in der DDR ein viel gelesener und geehrter Autor. Durch die Wende verlor er sein Publikum. Im Westen lese niemand Gedichte, sagt sein Verleger und rät zu einem Liebesroman. Doch Henry findet Prosa öde. Bis die junge West-Kollegin Sidonie seine Phantasie beflügelt.

In „Dichterliebe“ fragt Petra Morsbach ernst und ironisch zugleich nach dem Platz des Künstlers in der Gesellschaft. Nebenbei ist es eine kleine Studie über Poesie und Macht, über Verlust und Gewinn von Wirklichkeiten durch Träume und darüber, wie Künstler lieben.

Ein deutsch-deutscher Roman, der der Welt der DDR die rauhe Wirklichkeit nach der Wende gegenüberstellt, treffsicher und voll subtiler Komik.

Leseprobe

Es wurde eine Nacht der Beichte. Wir saßen eingezwängt in dem engen Wagen, ohne einander anzusehen. Der linkische Jakob, der immer das Gute wollte und an allem das Beste sah, offenbarte sich als fragiler Held unendlicher Gewissensdramen.

Der Anfang war mir bekannt: Vati verschwunden, Mutti im Knast – Jakob nannte sie wirklich so, wie um eine Vertrautheit zu beschwören, die es nie gegeben hatte. Mutti konnte mit ihm nichts anfangen, seitdem suchte er Anschluß um jeden Preis. Daß ein Preis zu zahlen war, begriff er rasch: Wer was gibt, will was dafür haben. Er gab Gehorsam. Er wurde enttäuscht. Jede Enttäuschung verstärkte den Gehorsam. Sein Musiklehrer, ein verehrungswürdiger alter Mann, der noch die Kaiserzeit erlebt hatte, gab dem halbwüchsigen Jakob den Auftrag, beim Schulfest auf dem Akkordeon zu improvisieren. Jakob, stolz auf das Vertrauen, baute zu Ehren seines Förderers die Melodie von Deutschland über alles ins Präludium ein, unauffällig, aber doch so, daß der es merken mußte. Plötzlich sah er: Der alte Herr starb vor Angst. „Tu so was nie wieder“, flüsterte der Alte später. Und dann etwas Überraschendes: „Sei klug wie die Schlange und ohne Falsch wie die Taube …“ Was dachte Jakob? Er dachte: Feigling. Was tat er? Behandelte ihn noch ehrender als zuvor, damit der sich nicht schämen mußte. Schämte sich stattdessen selber. So ging es immer weiter. An der Hochschule wurde er Marxist. Zu seinen ersten Schreibversuchen ermunterte ihn ein Parteisekretär. Ein Idealist! Jakob war Feuer und Flamme. Der Idealist redigierte das Großmutter-Typoskript unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für die herrschende Partei. Die Lügen, die sich ergaben, ließ Jakob zu, obwohl er sie bemerkte. Er schämte sich für die Partei, und was tat er? Wurde Genosse. Was tat sein Förderer? Floh in die BRD. Jakob wurde selbst Parteisekretär. Er wollte es besser machen.

So ging es immer weiter, von einem Gewissenskäfig in den nächsten, in seltsam beseeltem Ton. „Wie ist meine Bilanz?“ hörte ich Jakob fragen, wohl im Traum, denn es war in einer Wüste. Ich erwachte, weil mein Kopf gegen die Scheibe fiel. Als ich mich mühsam streckte und eine Zigarette anzündete, murmelte er: „Wußtest du, daß ich in Mähren meinen Vati getroffen habe?“

Die Geschichte mit Vati, die in Jakobs Zwanzigern spielt, war so lang, daß sie in den Tag hinein führte. Vati, der im Westen lebt, läßt Jakob eine heimliche Nachricht zukommen, er werde mit seiner Zweitfamilie die Ferien in Mähren verbringen. Jakob fährt konspirativ nach Olmütz, von mystischer Begeisterung erfaßt. Trifft seinen kriegsversehrten, aber solventen Westvati mit Stiefmutti und den beiden Halbgeschwistern: dem schweigsamen Abiturienten Karl und der schüchternen Elli. Vati nimmt Jakob, als wäre es das Selbstverständlichste, mit ins Hotel, natürlich das erste Haus der Stadt: drückt dem Türsteher einen Schein in die Hand, hat im Restaurant den besten Tisch bestellt, sie essen zusammen wie eine richtige Familie, Vati bringt einen Toast auf seinen erfolgreichen jungen Schriftstellersohn aus. Am Nachmittag Ausfahrt im einschläfernd schaukelnden Mercedes, am Abend noch mal große Tafel im Hotel, Vati fragt: „Warum kommst du nicht in den Westen?“, und Jakob protestiert nur matt in seiner familiären Trance. Es ergibt sich, daß Jakob sogar im Zimmer der Geschwister übernachtet, wiederum konspirativ, ein Geldschein für den Portier, einer für die Etagenfrau, und Jakob sinkt in Schlummer, während Bruder Karl auf die schweren Bettdecken aus Gänsefedern schimpft.

Früh am Morgen steht die Etagenfrau im Zimmer und schreit: „Die Russen sind da!“ Sie stürmt hinaus, rüttelt an der Elterntür, kommt zurück: „Die Russen! Rußland marschiert ein!“ Die Zwischentür springt auf, Vati im Schlafanzug ruft: „Sofort Aufbruch!“, die Familie sammelt hektisch ihre Siebensachen, Jakob hilft, schon sitzen alle im Mercedes und rasen Richtung Österreich, weil das der kürzeste Weg ins Ausland ist. Kolonnen sowjetischer Militärfahrzeuge kommen ihnen entgegen, junge Soldaten lachen und winken – sie scheinen es für ein Manöver zu halten, während Jakob sofort weiß, daß es das Ende des Prager Frühlings ist. Obwohl er das weiß, ist er zu keiner Entscheidung fähig, er klebt bis zur letzten Minute an diesen Leuten, die er für die Seinen halten möchte, und gibt insgeheim der Stiefmutter Recht, die ruft: „Um Goott’s wuin, wos rast‘ denn so, mir ham doch nix zum Fürchten!“ Vati stößt hervor: „O doch, in Rußland gibt es ein Todesurteil gegen mich!“ Jakob schweigt wie betäubt, bis plötzlich Vati merkt, daß er noch da ist, und abrupt auf die Bremse tritt. Der Wagen steht. Jakob sucht Abschiedsworte, da schreit der Sohn ihn an:“Mach daß d‘ nauskimmst, kimm, kimm!“ Und Jakob, abschiedslos, fällt aus dem Mercedes, der davonbraust.

Ein Todesurteil! Wodurch verdient man das? Doch nicht als einfacher Muschkote! Jakob, der eben noch seiner neuen Familie anhing bis zur Selbstaufgabe, hat sich schon wieder schuldig gemacht. Er kehrt in die DDR zurück und unterschreibt in seinem Betrieb eine Dankadresse an den Warschauer Pakt für die Sicherung des Friedens und des von der NATO bedrohten Sozialismus in der ČSSR, wofür er sich ebenfalls schämt. Lernt Ernestine kennen. Er liebt sie nicht. Aber sie bemüht sich um ihn, und da keine andere Frau das tut, läßt er’s zu. Er denkt, dann hat er’s wenigstens mal gehabt. Und sitzt in der Falle. Seitdem ist er nicht mehr in der Tschechoslowakei gewesen. Verdiente Strafe, findet er.


Roman
288 Seiten, gebunden, 13,5 x 21,5 cm 
Knaus Verlag
ISBN: 978-3-8135-0372-2

www.petra-morsbach.de

www.knaus-verlag.de

Zur Recherche

„Zeitraum meiner Recherche war im September / Oktober 2011. Orte: die polnische und tschechische Seite des Riesengebirges, das Erzgebirge, Königgrätz, Olmütz und Trebon.

Böhmen habe ich vor zehn Jahren zufällig kennengelernt. Ich habe es dann mehrfach bereist, und es beschäftigte meine Phantasie zunehmend. So fiel mir für meinen Wenderoman die Figur des böhmischstämmigen DDR-Autors Jakob Jehlitschka ein. In „Dichterliebe“ geht es unter anderem um die Rückwirkung der sprachlichen Deutung auf Lebensentwürfe, auch die durch äußere Verhältnisse erzwungene oder ermöglichte Umdeutung der eigenen Biographie. Jakob Jehlitschka hat, um seine dramatische Kindheit zu verarbeiten, die künstlerische Strategie des Märchens gewählt und war damit erfolgreich, was er sich auf einmal nicht mehr verzeiht.

Wichtig war, die Gegenden ruhig in Augenschein nehmen zu können. Am Schreibtisch hatte ich mir das Riesengebirge als Hintergrund für die Jehlitschka-Saga vorgestellt. Bei der Recherche aber sagte mir die gebändigte Landschaft mit ihren perfekten Pfaden und adretten Bauden mir nichts. Die sichtbare Prosperität freute mich für Dienstleister und Touristen. Ich danke der Robert Bosch Stiftung, die mir ermöglichte, sie rechtzeitig zu erkennen und nach Alternativen zu suchen.

Gut taugte für mein (historisches Kapitel) das böhmische Erzgebirge, dessen Entwicklung durch Entvölkerung, Uranerzbergbau, Straflager, später Industriesmog und Baumsterben gehemmt wurde. Inzwischen sind Wälder und Städte einigermaßen in Ordnung gebracht, es kann also als Bild der Nachkriegsjahre hingehen. Gleichzeitig finden sich noch viele Spuren der Vergangenheit, die für die Sechziger und Siebziger stehen könnten: aufgelassene Höfe und Dörfer, Ruinen, vom Wald verschlungene Nazi- und Sowjet-Lager. Die Landschaft ist nicht imposant wie das Riesengebirge, aber von strenger, boraler Schönheit. In diesem sonnigen Herbst offenbarte sie einen besonderen Reiz: Überall blühten Ebereschen wie rote Korallen inmitten der mürben Hochmoore und goldenen Wälder.

Die Recherche im Osten und Süden des Landes war inspirierend, doch fürs Buch vergeblich: Die Episoden führten zu weit von der Kernhandlung weg und mußten gestrichen werden. In der Leseprobe finden Sie eine davon.“

  • Autorenfoto Petra Morsbach © Susanne Geier
    Petra Morsbach, 1956 geboren, studierte im München und St. Petersburg. Danach arbeitete sie zehn Jahre lang als Dramaturgin und Regisseurin. Seit 1993 lebt sie als freie Schriftstellerin in der Nähe von München. Bisher schrieb sie mehrere, von der...